Mittwoch, 2. Januar 2019

Wenn aus Vorurteilen Urteile werden und Urteilen Konsequenzen folgen I/II Perspektiven auf den Ausstieg Felix Benneckenstein, Maik Scheffler, Stefan Rochow, Fabian Wichmann für den Aktionskreis ehemaliger Extremisten / EXIT-Deutschland

Gibt ein über Jahre aktiver Neonazi seinen Ausstieg öffentlich bekannt, beginnen die immer selben Debatten: Manche lesen und glauben die resultierenden Geschichten gerne, geben sie doch Mut, die inhaltliche Auseinandersetzung mit Rechtsradikalismus weiter zu vertiefen. Ein Erfolgserlebnis in einer schwierigen gesellschaftlichen Entwicklung. Andere mahnen und warnen: Wer quasi „gestern noch ein Nazi“ gewesen sei, könne nicht schon heute als positives Beispiel gelten – auch, wenn es nur um den Ausstieg an sich geht.



Unter den ehemaligen Kameraden mischen sich unterdessen Wut und Enttäuschung, bei Einzelnen löst der Verlust des Aktivisten oder Freundes aber auch eine erste weltanschauliche Verunsicherung aus. Ein kritisches Hinterfragen des Ganzen müssen die Protagonisten dabei aushalten und es ist auch erwünscht, dieses sensible Thema in jedem Falle kritisch zu prüfen – solange dabei nicht in Vergessenheit gerät, was ein Ausstieg eigentlich ist und nicht zugelassen wird, dass Rückwege verbaut werden.

Dieser Artikel soll eine Innenperspektive zeichnen, unser Verständnis von Ausstieg vermitteln, sowie auf Probleme und Kritik im Zusammenhang mit Bildungsveranstaltungen aufmerksam machen. Wir, die Verfasserinnen und Verfasser, sind Teil des AKTIONSKREIS EXIT-Deutschland (AK), überwiegend also ehemalige Neonazis.

Immer wieder werden Ausgestiegene mit teils abstrusen Erwartungshaltungen konfrontiert. Häufig sind diese orientiert an Parametern, die selbst mit Ressentiments bzw. streng-ideologischen Grundsätzen behaftet sind. Wer diese Normen aber festlegt und ob diese wirklich maßgeblich für einen glaubhaften Ausstieg sein müssen, ist nur selten klar. Den einzig richtigen und wahrhaften Weg zum Ausstieg gibt es nicht. Was es hingegen gibt, ist die Evaluation von Initiativen oder Institutionen, die mittels nachvollziehbarer und bewährter Methoden bewerten können, ob und wie weit Ausstiegsprozesse geeignet erscheinen, mit einer Ideologie und einer Weltanschauung zu brechen. Die einzelnen Fälle sind dabei individuell so komplex, wie es die Diversität der betreffenden ausstiegswilligen Menschen eben erfordert.

„Aussteigervortrag“: Selbstdarstellerische Freakshow oder authentische Zeitzeugengespräche mit nachhaltiger Wirkung?


Besonders hitzig wird die sogenannte authentische Präventions- und Distanzierungsarbeit von Aussteigern an Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen diskutiert – also autobiografisch geprägte Vorträge. Während die einen gar von „Freakshows“ mit emotional übersteigerten „Inventing Stories“ reden, also Glaubwürdigkeit und Nutzen vorab absolut verneinen, verbindet die überwiegende Mehrheit derer, die z.B. als Pädagogen, Multiplikatoren der Jugendarbeit oder zivilgesellschaftliche Akteure real betroffen sind, die nachhaltige Sensibilisierung mit anwendbaren Handlungskompetenzen durch die Erfahrungen und transparenten biografischen Ausführungen.

Zunächst müssen sich alle Beteiligten – der/die Vortragende, aber auch die jeweiligen Organisatoren – darüber im Klaren sein, dass es sich bei den autobiografischen Aspekten eines solchen Vortrages lediglich um ein subjektives Fallbeispiel handeln kann. Diese haben durchaus ihre Daseinsberechtigung und können richtungsweisend sein, unter Umständen sogar essentiell: Etwa in der Frage nach der Einstiegsmotivation erleben Ausstiegsbegleitende durchaus gewisse Muster, die sie als typisch für eine Mehrheit der Ausstiegswilligen beschreiben würden. Eckdaten, wie z.B. junges bzw. jugendliches Alter, Wut auf das System oder die Berührung mit subkultureller Propaganda in Form von sogenanntem Rechtsrock ebneten häufig den Weg zur späteren, umfassenden Radikalisierung.

Niemals wird dieser eine Ausstieg als passende Schablone für andere Fälle funktionieren können, hierfür sind einzelne Strukturen – sowohl in der Ansprache der meist jugendlichen Einsteiger, als auch im Verhältnis zu offensiver Gewalt und „Bestrafung“ von Ausstiegen – zu unterschiedlich. Die frühe Sozialisation in der Szene ist oftmals für die spätere Entwicklung von Bedeutung, was auch unmittelbare Folgen auf den Ausstieg haben kann. Will heißen: Jemand, der sich schon beim Einstieg vor allem für möglichst brutale Gewalt und eine furchteinflößende Drohkulisse interessierte, wird sich wohl auch zum Zeitpunkt der Ausstiegsplanung am ehesten in einem entsprechend militanten Umfeld wiederfinden, indem das Verhältnis zur Gewalt zwar der Ideologie nach dasselbe wie in anderen Gruppen ist, es aber erheblich offener gelebt wird. In diesen Gruppierungen macht man sich keine Mühen, durch möglichst wenig radikale/militante Aktionen aufzufallen und auch die offene Verfolgung von „Verrätern“ ist hier in der Regel weniger subtil, als in anderen Strömungen. Jemand, der sich hingegen etwa gerade über klassische Fangthemen wie „soziale Gerechtigkeit“, „Antikapitalismus von Rechts“ etc. durch eher demonstrations- und diskursorientierte Kreise angesprochen fühlte und / oder der beliebten Hypothese folgte, nach der man als Nationalsozialist zu den „einzig friedlichen“ in einer gewalttätigen Gesellschaft gehöre, wird typischerweise eher in hochgradig ideologisierten Kreisen landen und vielleicht missionarisch wirken. All dies ist auch in die Bewertung der Einschätzungen der / des Vortragenden einzubeziehen. Der Vortrag ist also nicht als alleinstehende Maßnahme der politischen Bildung zu verstehen – vielmehr werden bei dieser Aufgabe beispielsweise Lehrkräfte mit der ethisch-politischen Botschaft eines Zeitzeugen unterstützt.

Im Idealfall wird die Darbietung sinnvoll in den Lehrplan eingebaut und entsprechend vor- und (vor allem!) nachbereitet. In jedem Fall darf sie nicht völlig kontextlos, quasi als nette anekdotenhafte Erheiterung oder Belehrung verstanden und umgesetzt werden. Dafür ist das Thema zu brisant und die Zeit aller Beteiligten zu schade. Schlimmer noch: In einem solchen Fall kann gar ein Faszinosum für einzelne, meist junge, Zuhörerinnen und Zuhörer entstehen, womit jedes ursprünglich positive Ziel ins Gegenteil transferiert wäre. Was allen bewusst sein sollte: Es ist und bleibt eine verantwortungsvolle Aufgabe- für alle Beteiligten.
Die Aussteigerinnen und Aussteiger, die bei EXIT-Deutschland in den letzten Jahren Unterstützung für ihre eigene Deradikalisierung fanden, kommen aus unterschiedlichen Strömungen der rechtsradikalen Szene. Klar dominieren aktivistisch orientierte und bundesweit relevante Gruppen. Doch auch parlamentarisch strategische sowie regionalspezifische Phänomenbereiche gehören dazu. Niemand kann für alle möglichen Szenarien im Innenleben der extremistischen und radikalen Lebenswelten sprechen. Es handelt sich immer nur um die (authentische) Betrachtung aus der Sicht dieser Person. Um nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Mehr zum Thema sowie Dos and don’ts of involving formers in PVE/CVE work.

„Der macht sich nur wichtig“ – Ausgestiegene in der Öffentlichkeit.


„Der Berufsaussteiger, der vom Saulus zum Paulus wurde, will uns nun die Welt erklären? Hätte er doch besser mal in der Schule aufgepasst – Dann müsste er sich nun nicht in den Mittelpunkt drängen und sein Leben mit Buchverkäufen oder Talkshowauftritten finanzieren.“

Viele dieser Vorwürfe sind Ausgestiegenen alles andere als fremd. Aus der Außenperspektive mag dies manchmal so erscheinen, für Einzelfälle auch unter Umständen teilweise zutreffend sein – Der Antrieb des AKTIONSKREIS und vieler anderer Menschen, die Versuchen, mit biografisch untermauerten Ansätzen auf die Gefahren von Radikalisierung hinzuweisen, ist ein völlig anderer.

So sind gesamtheitlich betrachtet nur relativ wenige Ausgestiegene mit ihrer Geschichte tatsächlich in der Öffentlichkeit – was sowohl mit der persönlichen Entwicklung im Prozess, als auch mit der Einschätzung der jeweiligen Fallbetreuer zu tun hat. Insbesondere die Gefährdungslage lässt dies bei Weitem nicht in jedem Fall zu. Bei denjenigen, die sich für diesen – durchaus zukunftsweisenden – Schritt der öffentlichkeitswirksamen Distanzierung entschieden haben, wird zudem nicht selten von allen Seiten eine potentiell ehrbare Motivation mit den sich stets wiederholenden Vorwürfen einer „Profilierungssucht“ von der Hand gewiesen. Auch hier mag es Fälle geben, die diesen Anschein wecken. Dennoch erlauben wir uns an dieser Stelle die Frage, ob mit dieser temporären und zielgruppenorientierten Bekanntheit, die sich in jedem Falle auf das Scheitern eines Lebensentwurfes, auf Fehler und Irrtümer, man könne gar sagen auf ein Totalversagen reduziert, wirklich eine erstrebenswerte Wahrnehmung erreicht wäre? Die an diesem Artikel mitwirkenden Autorinnen und Autoren beschreiben die Folgen der öffentlichen Wahrnehmung als mindestens „langfristig belastend“. Für viele ist die „Flucht nach Vorne“ einer der Hauptkatalysatoren für den Schritt in die Öffentlichkeit gewesen – die Bekanntheit „als Neonazi“ war und ist zu diesem Zeitpunkt zu groß gewesen und nur durch nachvollziehbare Statements und Engagement ist dem etwas entgegenzusetzen. Zudem wird in einem ideal verlaufenden Ausstiegsprozess auch die Verantwortungsübernahme immer präziser. Man hetzte in einer Art und Weise andere auf, dass man sich vielleicht verantwortlich fühlt, argumentative Schadensbegrenzung zu betreiben.

Zudem sind auch wir als Verfasserinnen und Verfasser dieses Artikels nie unpolitisch gewesen. Dies gilt für eine nicht unerhebliche Zahl anderer Ausgestiegener ebenso. Auch wenn wir elementar menschenverachtende, freiheitseinschränkende und historisch grundlegend falsche, diskreditierte Ideologien und Denkmuster vertreten haben. Selbstredend sind wir auch nach unserem Ausstieg politik- und gesellschaftskritische Menschen, die vielleicht gerade aufgrund ihrer biografischen Polarisierung auf Probleme einwirken möchte, respektive verweisen können. Aus dem einstigen Drang zu missionieren entwickelte sich die aktive Übernahme von Verantwortung mit den wirksamen „Waffen“ der gemachten Erfahrung und in ihrer Konsequenz der notwendigen Reflektion. Der Vorwurf des „Berufsaussteigers“ ist insofern ebenfalls schwer zu verifizieren: Teilweise ist die Vortragsarbeit mit einer beruflichen Orientierung, etwa in der sozialen Arbeit, verbunden und teilweise wird dies auch so kommuniziert. Die Vortragenden stellen jedoch zumeist nur einen konzentrierten Bereich ihres Lebens öffentlich zur Schau, nämlich den, der unmittelbar mit Radikalisierung und Deradikalisierung – also Einstieg, Rolle/ Aktivität und Ausstieg – in Verbindung steht. Was jenseits dieses Teilbereiches geschieht, darüber werden Externe Personen – meist aus Sicherheitsgründen, aber auch aus Respekt vor der Privatsphäre der Protagonisten – häufig im Unklaren gelassen.
...weiter mit Teil II 

„Allein kommt man da nicht mehr raus!“ - Maik Scheffler, Aussteiger aus der rechten Szene, besuchte Neustädter Schulen

Neustadt. Maik Scheffler lächelt freundlich. Er ist ein zuvorkommender, sehr ruhiger und ausgeglichener Mensch. Seine Stimme ist warm u...